Woche der Brüderlichkeit 2012 / christl.-jüd. Gemeinschaftsfeier

Zum Abschluss der „Woche der Brüderlichkeit“ 2012 fand am Sonntag, 18. März 2012 um 17 Uhr in der Basilika St. Matthias zum 7. Mal der Jüdisch-christliche Gemeinschaftsgottesdienst statt, gemeinsam veranstaltet von der Trierer Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, der Jüdischen Kultusgemeinde Trier, der Evangelischen Kirchengemeinde Trier, dem Katholischen Dekanat Trier und der Abtei St. Matthias. Er stand unter dem Motto der Woche der Brüderlichkeit 2012: In Verantwortung für den Anderen“. Dieses Motto wurde im Gottesdienst und insbesondere in der Predigt entfaltet, die hier dokumentiert wird.

 Predigt über 1.Mose 4,1-16

(gehalten im Jüdisch-christlichen Gottesdienst am 18. März 2012 in der Basilika St. Matthias von  Pfarrer i. R. Dr. Karl-Adolf Bauer/Trier)

Die Erzählung von Kain und Abel ist keine Geschichte aus einer versunkenen Vergangenheit, die wir inzwischen hinter uns hätten!  Nein, liebe Gemeinde, tagtäglich tauchen neue Varia-tionen dieser alten Erzählung in den Medien auf. Nur dass die Rollenverteilung meist nicht mehr so eindeutig ist, wie sie sich auf den ersten Blick im Text der Bibel darstellt. Wer ist heute Kain und wer ist Abel?

Die Geschichte kennt viele Anläufe, aus mörderischem Gegeneinander zu gedeihlichem Mit-einander zu kommen. In den Protestbewegungen in Syrien und anderswo sehe ich solche Versuche, die Geschichte vom Brudermord zu überholen: Kain soll nicht mehr Mörder und Abel soll nicht länger Opfer bleiben. Die „Woche der Brüderlichkeit“, die in diesem Jahr zum 60. Male stattfindet, ist in meinen Augen der Versuch, ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen Juden und Christen aufzuschlagen. . „In Verantwortung für den anderen.“ – so heißt in diesem Jahr das Motto dieser Woche. Im Spiegel der Erzählung von Kain und Abel stellt sich das Verhältnis von uns Christen zu den  Juden über die  Jahrhunderte hinweg vor-nehmlich als eine Geschichte verweigerter Verantwortung dar, in der wir Christen uns ge-genüber Israel wie Kain gegenüber Abel vergangen haben. Wenn wir miteinander über die-se Geschichte von Schuld und Versagen hinauskommen wollen, können wir nichts Besseres tun, als uns jetzt dieser alten Erzählung der Bibel  auszusetzen. Ich will versuchen, ihrer Bot-schaft  in drei Schritten auf die Spur zu kommen.

  1. Wie kommt es eigentlich zu der Katastrophe, dass einer seinen Menschenbruder liquidiert und zu der Überzeugung kommt, er könne nur existieren, wenn der andere nicht mehr co-existiert? Es scheint so, dass die Wurzel für die Katastrophe zwischen Kain und Abel ganz schlicht darin liegt, dass sie verschieden sind. Es steht kein Wort davon in der Erzählung, dass der eine - als der Ältere und Ackerbauer – brutal und gewalttätig und der andere – als der Jüngere und Schafhirte – friedlich und mildtätig gewesen sei. Kein Wort davon, dass der eine gottesfürchtig und der andere gottlos war. Es wird nur gesagt, dass der eine anders ist als der andere: sein Name ist anders, sein Beruf und damit seine Lebensgewohnheiten sind an-ders. Und auch ihre Gottesdienste sind verschieden: sie finden auf getrennten Altären statt, ihre Opfergaben sind verschieden. Und – was besonders schwer zu wiegen scheint – unter-schiedlich ist, wie sie sich von Gott angesehen wissen.  „Und der Herr sah auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer sah er nicht. Da wurde Kain sehr zornig, und sein Blick senkte sich.“ Hat Kain nicht ebenso wie Abel vom Ertrag seiner Arbeit Gott ein Opfer dar-gebracht? Wieso dann dieser Unterschied? Ist Gott gar mit seiner unterschiedlichen Reak-tion auf die Opfer der beiden letztlich schuld daran,  dass es zum Brudermord kommt?

    Einstweilen halte ich hier inne und frage: Woher weiß denn Kain, dass Gott das Opfer seines Bruders Abel angesehen hat und das seine nicht? Die Erzählung schweigt darüber. Kennen wir nicht die Erfahrung, dass bei gleichen Voraussetzungen und gleichem Arbeitseinsatz es dem einen gelingt, dem andern nicht? Kann ich dafür Gott verantwortlich machen? Gehören Anderssein und Verschiedenheit nicht zum Menschsein hinzu und ist sie so eindeutig aufzu-klären? Und weiter: Wenn sich Kain von Gott übersehen wähnt, warum agiert er dann seinen Zorn an seinem Bruder aus statt ihn in Klage und Anklage an Gott zu adressieren, wie das in vielen Psalmen geschieht?

    Aber Kain täuscht sich: Mag sein, dass Gott sein Opfer nicht angesehen hat. Seine Person jedenfalls hat er nicht übersehen! ER sieht, dass Kain sich in seinem Zorn zu verlieren droht, redet ihn an und hält ihm den Spiegel vor. ER mutet ihm  zu, seinem Drang, den Anderen aus dem Weg zu räumen, zu widerstehen. Doch es ist, als hätte Gott in den Wind gesprochen. Kain  lässt sich nicht aufhalten. Er schlägt zu.

    Wo lebt Kain unter uns und in uns  – gequält  von der Erfahrung, trotz aller Opfer an Zeit und Kraft nicht das Ansehen und die Anerkennung erringen zu können, die er sich ersehnt und meint verdient zu haben, während sie dem Andern zuzufallen scheint? Ein Kain – verwickelt in den ständigen Kampf um Anerkennung, überanstrengt, gehetzt und am Ende zum Zuschla-gen bereit?

    Liebe Gemeinde! Es lässt sich nicht übersehen: die Verschiedenheit der Lebensgewohn-heiten und der Lebensauffassung von uns Menschen erzeugt einen latenten Gefährdungszu-stand. Wie ein Raubtier lauert die Gefahr vor der Schwelle, sich am Andern zu vergreifen, den Zorn über unterschiedliche Lebensschicksale am Andern abzureagieren, den Anders-glaubenden beiseite zu drängen.

    Der Andere ist ja immer Zu-Mutung und Gabe zu gleich.

    Er ist Zu-Mutung – setzt er doch meinem Verstehen und Begreifen einen Widerstand ent-gegen. Er stellt meinen heiteren Selbstbesitz und den auf mich hin entworfenen Aufbau mei-nes Lebens  in Frage. Besonders der Fremde, der Notleidende, der Schutzlose, der Elende  ist der Andere und allemal ein Appell an meine Hilfsbereitschaft.

    Der Andere ist Gabe: Du wärest einsam, wenn es den Anderen nicht gäbe. Er oder sie hat dir etwas zu geben, was du nicht hast und dir nicht selbst geben kannst. Ja, wir schlagen uns selbst, wo wir den Anderen schlagen und ihn als Gabe ausschlagen! Ich denke: als Christen haben wir angefangen zu begreifen, was wir von Israel empfangen, welchen Reichtum wir so lange ausgeschlagen haben!

    Es ist wohl kein Zufall, dass es gerade ein jüdischer Denker – Emmanuel Levinas – war, der im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts auf dem Hintergrund der Shoa den verhängnisvollen Zug zur Uniformierung in unserer philosophischen Tradition aufgedeckt und uns den Blick auf  den Anderen in seiner Andersartigkeit geschärft hat – gemäß dem programmatischen Satz seines Denkens: „Die Bibel, das ist die Priorität des Anderen im Verhältnis zu mir“.

    Ja, Gott wacht über dem Recht des Anderen, er selbst sein zu dürfen. Das ist die erste Bot-schaft dieser alten Erzählung und der ganzen Bibel. Und wir müssen uns fragen lassen, wo wir dieses Recht des Andern, er selbst zu sein, unter uns angetastet haben?

  2. Dass der Andere vor Gott und Menschen das Recht hat, er selbst zu sein, heißt nun nicht, dass wir das Recht hätten, ihn sich selber zu überlassen. Das Gegenteil der Beseitigung des Andern heißt, dass ich mich an seine Seite stelle und Verantwortung für ihn übernehme. Das ist die zweite Botschaft.

    Nachdem Abel erschlagen ist, meint Kain zur Tagesordnung übergehen zu können. Abel, der Andere – ist weg. Doch Kain täuscht sich: „Wo ist dein Bruder?“  Mit dieser Frage  tritt Gott ihm in den Weg. Sie ist einer der ganz großen Sätze der Bibel, ein Satz mit Widerhaken! Zusammen mit der Geschichte von Kain und Abel wandert diese Frage durch die Zeiten und schreibt uns die Verantwortung für den Anderen in Herz und Gewissen. Kain meint sich die-ser Frage mit einem frechen Witz entziehen zu können: „Soll ich etwa den Hirten hüten?“  Was geht mich der Andere an? Ist denn nicht jeder für sich selbst verantwortlich? Doch der Schrei des Blutes seines erschlagenen Bruders lässt sich mit dieser dreisten Gegenfrage nicht zum Schweigen bringen. Dieser Schrei wird nicht nur vom Blut der Erschlagenen erhoben, von den in den Konzentrationslagern Umgebrachten, der lautlos beiseite Geräumten, der un-schuldig Erschossenen, sondern auch von ungezählten Lebenden, Geängstigten, Hungern-den, Unterdrückten. Wir kennen diesen Schrei längst. Wenn wir hören wollen, hören wir ihn  täglich aus den Informationen, die uns erreichen. Und doch reden und leben wir zumeist so, wie wir es bei Kain als offene Unverschämtheit Gott und dem Anderen gegenüber empfin-den: reden und leben so,  als gehe es uns nicht an, als könnten wir zumindest nichts dagegen unternehmen. Wir haben uns allmählich, daran  gewöhnt, dass das Unrecht zum Himmel schreit – wohl auch deshalb, weil wir von Informationen überschwemmt werden und von unseren Arbeits- und Unterhaltungsprogrammen in Atem gehalten sind.

    Wir wissen: Heute bringt Kain seinen Bruder Abel, für den er keine Verantwortung über-nehmen will, meist nicht dadurch um, dass er tätlich wird, sondern dadurch dass er nichts tut oder denkfaul geworden ist.  Wir wissen auch – Jesus hat es uns in der Bergpredigt ein-geprägt(vgl. Matth 5,21f.) - das Töten des Andern bahnt sich schon da an, wo der Andere als Mensch diffamiert, seiner Herkunft, Religion und Überzeugung wegen ausgegrenzt und einfach übersehen wird. Und auch dort, wo wir schweigen statt den Mund aufzumachen, wenn wir Zeugen solchen Trei-bens werden.

  3. Die Erzählung von Kain und Abel gehört zu den vielen Texten der Bibel, die man in keiner Predigt ausschöpfen kann. So mache ich denn jetzt einen Sprung und frage vom Ende dieser Geschichte her, ob sie uns einen Wink gibt, in Verantwortung für-  und miteinander zu leben. Mir scheint. Sie denkt sehr nüchtern über uns. Dass selbst Gott vergeblich versucht, Kains Wut zu dämpfen, zeigt:  es wird  nicht leicht sein, Kain aufzuhalten und Abel zu retten!  Dennoch macht uns diese Erzählung auf zweierlei Weise Mut.

    Zum einen: Gott steht auf der Seite Abels. Für ihn tritt er gegen Kain ein. Vielleicht deutet sich der Grund dafür im Namen „Abel“ an. Wer ihn hört, denkt an das andere hebräische Wort häbäl: „Hauch, Dunst. Nichts“ und  nimmt diesen Namen kaum als hoffnungsvolles Vorzeichen. Doch hat nicht der Gott Israels, der Gott Jesu eine Schwäche für die Armen, Er-niedrigten, an den Rand Geschobenen? Und ist das nicht gerade seine Stärke, an der ER uns teilhaben lassen will? Wer für Abel gegen Kain eintritt, wer für den Anderen Verantwortung übernimmt, wisse: er kann sich für sein Tun mit Fug und Recht auf den Gott der Bibel berufen!

    Zum andern: Gott steht überaschenderweise auch auf der Seite Kains. ER erspart ihm die Fol-gen seiner Untat nicht. Aber ER legt ihn nicht auf immer darauf fest. Kain soll nicht Mörder, aber er soll am Leben bleiben!  „Der Herr versah Kain mit einem Zeichen, damit ihn nicht erschlage, wer auf ihn träfe.“  Der Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt soll unterbrochen werden. Recht soll an seine Stelle treten. Das bedeutet: Nicht der Mörder, aber der Mensch Kain hat ein Lebensrecht auf der Erde. Gott verurteilt seine böse Tat, aber ergreift Partei für die Person des Täters. Mit dieser wohltätigen Unterscheidung gibt uns die Erzählung einen Wink: Gott mutet uns zu, auch mit dem unbequemen Anderen zu leben, dessen  Überzeu-gungen wir nicht teilen und dessen Tun wir auf keinen Fall billigen können, weil er Abel bedroht oder gar wie Kain schon getötet hat. Ja, Gott mutet uns zu, diesen unbequemen Anderen als Menschen und als Person in seiner Andersartigkeit zu achten und auch für ihn Verantwortung zu übernehmen. Als Person achte ich ihn aber erst dann, wenn ich ihn selbst in seinem verqueren Denken ernst nehme und auf sein gefährliches Tun anspreche, mich  mit seinen Gedanken auseinandersetze – und wenn es um Abels willen sein muss: auch im  Streit, ohne Gewalt, mit Worten und Argumenten. In diesem Sinne Verantwortung für den Anderen übernehmen – das kann harte Arbeit sein. Doch ohne diese Arbeit, wird ein potentieller Kain weder aufzuhalten noch ein bedrohter Abel zu retten sein!

    „Kain liess sich nieder im Lande Nod, östlich von Eden.“ Mit diesem Sätzchen endet die Er-zählung von Kain und Abel. „Im Lande Nod“ – das bedeutet: im Land Unbehaust jenseits von Eden. Da wohnen wir  – in einer Welt, in der wir uns notgedrungen zurechtfinden müssen, verletzlich und schutzbedürftig, angewiesen auf Orientierung durch Geschichten wie diese, durch die ER, hochgelobt sei ER, uns begleitet und uns  die Verantwortung für den Andern in Herz und Gewissen schreibt. Amen.